Maren Gebhardt in: Von Frauen, Göttinnen und Gattinnen von Göttern und der Heiligen Dreifaltigkeit.
18. Januar 2011
Leben im Rollstuhl
Eine Amputation ist ein schwerwiegender Eingriff und verändert das Leben des Patienten. Es ist ein Eingriff in seine Persönlichkeit. Der Patient fühlt sich nicht mehr vollständig und neigt zu Depressionen. Es ist eine völlig neue Situation. Damit musste ich erst einmal fertig werden. Das dauerte. Mit der Prothese habe ich drei Jahre trainiert, es ging schon ganz gut, dann immer mieser. Ich musste aufgeben. Seit dem bin ich Rollstuhlfahrerin.
Michael als Beifahrer
Das war ein entzückendes Erlebnis. Ein kleiner Junge fragt mich, wie der E-Rolli funktioniert. Ich erklärte es ihm. Er will es ausprobieren, aber ich sage ihm, das geht nicht so schnell. Dann fragt er mich, ob er ein Stück mitfahren darf. Ich nehme ihn auf den Schoß und rolle mit ihm ein kleines Stück. Er strahlt. Wenig später treffe ich ihn und seine Mutter wieder. Er ruft und winkt mir zu: „Ich bin doch der Michael!“ Ich hatte ihn nach seinem Namen gefragt, dass tue ich oft, es ist eine erste Verbindung, vielleicht nur für fünf Minuten, ein möglicher Anfang.
Vom Kaffeetisch ins Atelier
Eine junge Frau kommt an meinen Kaffeetisch und fragt, ob sie sich zu mir setzen darf. Natürlich. Bald sind wir mitten in einem Gespräch. Das passiert nicht oft. Ich erzähle von einem jungen Bildhauer, den ich bald einmal besuchen will, und der gerade eine Ausstellung hat. Interessiert? Ja, sehr. Sie hat ein Auto. Wir fahren nach Bad Homburg. Sie hat noch nie ein Atelier gesehen, Kunst, wohin du blickst. Sie ist sehr beeindruckt. Die Frau des Bildhauers ist eine frühere Klassenkameradin. Was für ein Zufall. Der junge Mann ist fast blind und schaut mit den Händen, die alles sehen können. Es ist erstaunlich, wie sich seine Wahrnehmung im Raum so entwickelt hat, dass man seine Fastblindheit vergessen kann. Er gibt sogar Kurse für Sehbehinderte und Blinde, auch für Kinder. Vorher war er Fliesenleger, dann bekam er das Augenleiden und heute ist er Bildhauer, sehr begabt und ideenreich, unverwechselbar. Er arbeitet mit Freude, hat Erfolg, hat Weib und Kind, Anna, vier Jahre, sie ist kerngesund und ein ganz anderes Umfeld, ein glücklicher Mann. Er hat sein Schicksal gemeistert. Hochachtung! Und meine neue junge Bekannte will jetzt bei ihm einen Kurs machen. Wie mich das freut.
Stecken geblieben
Eine Rolligeschichte muss ich noch erzählen. Ich rollte so friedlich vor mich hin auf einem geteerten Waldweg, das Wetter war schön, die Sonne schien, die Vögel sangen, im grünen, grünen Wald, da schien mir ein Weglein nach rechts abzubiegen, verlockend mit ebenem Boden, allerdings Waldboden, kein Teer, aber gut befahrbar wie es mir schien. Also bog ich rechts in den Wald ein, der Weg blieb auch so eine Zeitlang, dann wurde der Weg schmaler, die Bäume dichter, der Boden unebener. Da hätte ich kehrt machen müssen. Aber es war so spannend. Ich wurde leichtsinnig. Und dann kam ein Malheur:
Vor mir ein dicker großer Stein, der mich stoppte. Ich wollte zurücksetzen, da war hinter mir auch ein großer dicker Stein. Der war vorher nicht da. Ich saß fest. Weit und breit kein Mensch. Was nun? Um Hilfe schreien? Sinnlos, keiner da. Ich setze etwa vier Zentimeter zurück, einen Zentimeter einschlagen, vier Zentimeter nach vorn bis zum Stein, zwei Zentimeter einschlagen zurück usw., X-Mal, aber ich kam frei. Hinterher viel mir plötzlich ein, was Rotkäppchens Mutter zu ihrem Töchterchen sagte: „Geh nicht vom Weg ab, sonst kommt der böse Wolf.“
Rolli und Fußgänger
Ich kenne eine sehr feine alte Dame in diesem Haus, die noch fabelhaft gut zu Fuß ist, ohne Stock. Ich fragte sie, ob sie größere Spaziergänge macht, aber sie sagte nein, dass wäre ihr zu gefährlich, so ganz allein. Jetzt haben wir schon ein paar Mal kleine Touren Rolli und Fußgänger gemacht. Das fanden wir beide toll. Man kann mal eine Pause machen und sich was erzählen. Immer allein ist auch nicht so schön. Ich fahre zwar auch oft alleine los, besonders jetzt, wo alles blüht. Meine Aufmerksamkeit für die Natur hat dadurch sehr zugenommen. Früher bin ich einfach so rumgesaust. Jetzt möchte ich wissen, wie die Bäume und Blumen heißen. Jetzt präge ich mir das Aussehen von Bäumen und Blumen ein, so gut es geht, und schaue zu Hause in ein Pflanzenbestimmungsbuch. Nicht immer, dazu bin ich zu faul, aber ich habe doch einiges gelernt. Ich bin neugierig und wissbegierig, das sind sehr nützliche Eigenschaften. |